Johann Sebastian Bachs Werke für die Solo-Violine sind die wohl meist studierten Kompositionen der Welt. Und trotzdem wissen wir über die damals übliche Interpretation vergleichsweise nur sehr wenig darüber. Felix Mendelssohn war der Erste, der mit der Wiederaufführung der Matthäus-Passion in Leipzig Barocke Musik wieder in den Konzertsaal brachte, in den „verlorenen“ Jahrzehnten dazwischen ging jedoch viel Wissen über die adäquate Interpretation von Musik dieser Zeit verloren. Als weiteres „Unglück“ kommt hinzu, dass wir heute auf ganz anderen Instrumenten spielen, wie damals. Unsere Violinen wurden vor 200 Jahre einem Umbau, man könnte schon fast sagen einer Vergewaltigung unterzogen, man hat mit Stimmstock und Bassbalken kleine Violinen dazu genötigt, alleine genug Klang zu erzeugen um Säle wie den großen Musikvereinssaal füllen zu können. Sich einmal auf einer mit Darmsaiten bespannten Barock-Violine mit einem Barock-Bogen für eine halbe Stunde zu versuchen, würde vielen Musikern zeigen, dass der heute teilweise immer noch übliche große, volle Klang damals nicht möglich war.
Trotzdem, jeder, der heute behauptet er wüsste genau, wie Bach selbst seine Werke interpretiert hat, lügt. Es gibt keine Aufnahmen aus dieser Zeit und nur sehr wenig niedergeschriebenes Wissen. Die Regeln der Musik wurden damals von Lehrer zu Schüler weitergegeben, es gibt nur sehr wenige Schriften, die zumindest eine Richtung vorschlagen (Geminiani, Leopold Mozart, Quantz).
Man kann allerdings heute ziemlich sicher sagen, wie man damals „nicht“ gespielt hat. Bach selbst war auch Geiger, und seine Violinwerke spielte er alle selber. Wenn man sich also die Bindebögen in seinen Werken einmal genauer ansieht und wirklich die Striche spielt die dort stehen, ergeben sich ganz klare Phrasierungen. Auch wenn man sich wie vorher kurz angesprochen etwas mit Barock-Instrumenten beschäftigt, wird einem bald klar, dass man Akkorde damals nicht drei-oder vierstimmig spielen konnte. Und wenn man sich das Klangbild barocker Instrumente vorstellt, die nicht verändert wurden sondern Form und Klang beibehalten haben, so verbinden wir mit einem Akkord beim Cembalo, bei der Gambe oder bei der Laute immer ein Arpeggio. Wenn man also auch auf der Violine die Akkorde arpeggiert und dabei den Basston ganz deutlich auf der Eins beginnt und nicht antizipiert, so ergibt sich ein runder und voller Akkord-Klang, obwohl man die einzelnen Töne nicht gleichzeitig hört. Ich bin überzeugt, dass in der Musikwelt vor ein paar Jahre ein Umdenken begonnen hat – es wird das klassische Standardrepertoire weitaus differenzierter gespielt als noch vor 30 Jahren, wo man meist versucht hat einen möglichst großen und runden Klang zu produzieren. Ich möchte mit dieser Aufnahme dieser Aufbruchsstimmung und Rebellion gegen die Tradition folgen und zeigen, wie „anders“ Bach plötzlich klingen kann.